Ich öffne die Augen und blicke in vollkommene Dunkelheit. Meine Träume waren lebhaft und bunt. Sie hatten Struktur. Jetzt befinde ich mich im schwarzen Chaos. Träge klettern meine Finger über das Laken, wollen sich um den Lichtschalter schlingen. Sie greifen ins Leere. Schlagartig ist der Schlaf aus meinen Augen verschwunden. Kerzengerade sitze ich im Bett und taste die raue, kalte Wand ab. Nichts. Kein Schalter. Kein Kabel. Nichts! Wo bin ich? Und wo ist das Licht? Erneut gleiten meine Finger über die nackte Mauer. Die kleinen Rillen und Mulden erscheinen mir so vertraut. Als Kind habe ich sie nachgezeichnet, wenn ich nicht schlafen konnte. Das kleine, sternförmige Nachtlicht hat gruselige Schatten erschaffen. Aus Angst vor ihnen habe ich mich der Mauer zugewandt und unsichtbare Linien darauf gemalt. Wie in alten Zeiten ist mein kleiner Finger nun in einer der zahlreichen Mulde hängen geblieben. Ich weiß, ich bin zu Hause. Vermutlich liege ich nur verkehrt im Bett.

Meine Füße schwingen über den Rand der Matratze und ich stehe vorsichtig auf. Erneut lasse ich meine Hände über die Wand gleiten. Dieses Mal großflächiger. Trotzdem: Kein Licht und auch keine Bilder. Mein Zimmer ist voller gerahmter Fotos von spannenden Reisen und geliebten Menschen. Sie bedecken alle Wände. Diese Mauer ist jedoch kahl. Wo bin ich hier gelandet? Vielleicht habe ich jemanden nach Hause begleitet? Nein, daran könnte ich mich erinnern. So viel habe ich nicht getrunken, nicht dieses Mal: Gestern acht Uhr. Treffen mit meinen drei engsten Freunden, Rathausplatz. Weiter Richtung Café Brand in der Sonnenstraße. Drei Bier. Einmal Tequila. Die Kellnerin an der Bar zwinkert mir zu, Prost! Keine peinlichen Begegnungen oder andere unangenehme Vorfälle. Wo zur Hölle bin ich? Ich lasse mich auf die Knie sinken und streiche über den Rand des Bettes. Es ist aus Holz. Meine Finger stoßen gegen ein anderes Möbelstück, einen kleinen Quader, der die Höhe des Bettes hat. Ich ergreife einen metallenen Gegenstand mit zwei Wölbungen an der oberen Seite und einem Bogen, der sie verbindet. Als ich ihn an meine Ohrmuschel drücke, höre ich ein leises, gleichmäßiges Ticken. Etwa eine Bombe? Jedenfalls keine Taschenlampe und auch kein Lichtschalter. Nachdem ich ihn ein zweites Mal an mein Ohr gepresst habe, lege ich ihn auf den Boden und setzte meine Suche fort. Die Bewegungen meiner Hände werden immer schneller und flüchtiger. Ich erfasse einen Griff, der an dem Quader befestigt ist, und ziehe daran. Verschlossen. Verdammt! Ich krieche über den Boden, die Arme von mir gestreckt, wie Scheibenwischer. Alles was ihnen in die Quere kommt wird mit Nase, Ohren und Händen genauestens untersucht. Meine Vermutung, dass es sich bei dem Wohnungsbesitzer um einen Serienkiller handelt, erscheint immer wahrscheinlicher. Spitze, stachelige, raue und verdächtig zarte Gegenstände liegen in meinem Weg: Ein kleiner Stab auf den ein Igel gespießt wurde, ein paar scharfe Glassplitter und etwas, das sich anfühlt wie ein kleines Boot mit einem spitzen Stachel daran. Als ich an einer säuerlich riechenden, daumengroßen, geöffneten Dose schnüffle, höre ich ein leises Rascheln. Erschrocken reiße ich meinen Kopf nach rechts und berühre mit der Nasenspitze die weiche Masse im Inneren der Büchse. Mit der Stirn knalle ich gegen einen anderen Holzkasten. Fluchend reibe ich meine Schläfen. Wieder ertönt ein leises Rascheln. Es kommt von der anderen Seite des Raumes. Bestimmt ist es nur ein Hamster, rede ich mir ein. Mein Unterbewusstsein glaubt eher an eine Mörderpuppe.

Als wieder Stille eingekehrt ist, taste ich den Holzklotz vor mir ab. Hinter einer kleinen Tür befinden sich weitere Folterinstrumente, die dem Möchtegern-Boot ähneln. Ich schnüffle daran – definitiv Leder! Vielleicht die Haut von früheren Opfern? Ich ziehe einen nach dem anderen aus dem Regal und untersuche sie alle. Es handelt sich wohl um einen einfallslosen Folterknecht, denke ich. Immerhin sind sich diese Dinger alle sehr ähnlich. Und auch hier ist keine verdammte Taschenlampe! Ich stehe auf und lasse meine Finger über die Abstellfläche nächste gleiten. Von der Ordnung der unteren Etage ist hier nichts zu spüren. Verschiedenste Dinge in allen möglichen Formen sind dort kreuz und quer verstreut. Als ich eines der Stäbchen aus dem komplexen Gebilde ziehe, bricht es in sich zusammen. Eine Lawine rollt über die Kante und ergießt sich lauthals über den Boden. Die Stille ist gebrochen. Erstarrt stehe ich neben dem Regal und blicke in die Dunkelheit, wissend mein Ende naht.

Plötzlich umhüllt mich Licht. Meine Augen benötigen einen Moment um sich daran zu gewöhnen. Ich befinde mich in einem ganz gewöhnlichen Zimmer. Stöckelschuhe, ein Wecker, eine Bürste, Kosmetika und ein zerbrochenes Weinglas liegen am Boden. Der rote Inhalt des Glases hat sich über das Holz und diverse Kleidungsstücke ergossen. Im Bett liegt eine fremde Frau, die mich verschlafen ansieht.

„Was zur Hölle machst du da?“

Ich starre in ihre braunen Augen. Die Schminke in ihrem Gesicht ist verwischt. Fast sieht sie aus wie Harley Quinn. Sehr cool…sehr cool! Aber…äh…ja…was mache ich da? Ich sehe mich um und muss feststellen, dass ich es selbst nicht weiß. Was suche ich in den Sachen einer Fremden? Erst als mein Blick auf den Lichtschalter in ihrer Hand fällt, erinnere ich mich wieder.

„Ich habe das Licht gesucht.“

Sie zieht die Augenbrauen hoch und stöhnt:

„Alles klar, Rudolf mit der roten Nase.“

Verwirrt fahre ich mit meinem Handrücken über meine Nasenspitze und sehe den roten Strich.

In dem Moment schaltet sie das Licht wieder aus.

„Warum lerne ich nur verrückte Typen kennen?“

Text // Christina Vettorazzi